Der Gimli Gleider


Segelflugzeug wider Willen

1982 wurde die erste Boeing 767 in Dienst gestellt. Zum 40. Jahrestag dieses Ereignisses startete Herpa Ende 2022 mit einer kleinen Sonderserie des ersten zweistrahligen Großraumflugzeugs des amerikanischen Herstellers. Die 767 revolutionierte seinerzeit die Luftfahrt vor allem durch ihr digitales Zweimann-Cockpit. Aufgrund des hohen Grades an Automatisierung konnte künftig auf den Flugingenieur aus dem traditionellen Dreimann-Cockpit verzichtet werden. Dessen Aufgaben, zu denen unter anderem auch die Berechnung des benötigten Treibstoffvorrats zählte, wurde fortan von den Piloten übernommen. Zu einem fatalen Unfall kam es 1983 mit der vierten Boeing 767-200 der Air Canada.
In Folge eines Berechnungsfehlers bei der Treibstoffmenge wurde der 132 Tonnen schwere Jet mit der Kennung C-GAUN durch einen totalen Triebwerksausfall unfreiwillig zu einem Segelflugzeug mit dramatischer Notlandung.

Am 30. März 1983 übernahm Air Canada ihre vierte von insgesamt zehn bestellten und für den Mittelstreckeneinsatz geplante Boeing 767-233. Vier Monate später sollte das Flugzeug mit der Liniennummer 47 und der Kennung C-GAUN für Flug AC143 von Montréal via Ottawa nach Edmonton starten. Dass dieser Flug in die Luftfahrtgeschichte eingehen und sogar Stoff für einen dramatischen Spielfilm bilden würde, konnte am Morgen des 23. Juli 1983 niemand ahnen. Alles sah gut aus, als das Flugzeug mit 61 Passagieren und acht Crewmitgliedern startbereit am Gate des Flughafens Montréal-Dorval stand. Ein Problem gab es allerdings schon, denn das „Fuel Quantity Information System“ (FQIS) der 767 war ausgefallen.

Schon bei den Vorflugkontrollen wurden die Piloten von einem Mitarbeiter des Bodenpersonals darüber informiert, dass alle drei Tankanzeigen funktionsuntüchtig seien. Eigentlich dürfte das Flugzeug so gar nicht starten. Aber die „Minimum Equipment List“ (MEL) für diesen brandneuen und erst seit wenigen Monaten eingesetzten Flugzeugtyp war noch dünn und gab dazu keine klare Anweisung. So entschied Cpt. Bob Pearson, ein zumindest auf anderen Mustern erfahrener Pilot, schließlich zu fliegen, wenn genügend Treibstoff an Bord genommen und bei der Zwischenlandung in Ottawa ein manueller Check des Tankinhalts vorgenommen würde.

Fehler bei der Berechnung der Benzinmenge

Für den vierstündigen Flug nach Edmonton wurde ein Bedarf von 22.300 Kilogramm Kraftstoff ermittelt, wobei ein Liter Kerosin 0,803 Kilogramm wiegt. Von dem vorangegangenen Flug aus Edmonton sollten sich noch 7.682 Liter in den Tanks befinden, was einem Gewicht von 6.169 Kilogramm entspricht. Zieht man diesen Wert von den erforderlichen 22.300 Kilogramm Kraftstoff ab, ergibt sich also ein Kerosinbedarf von 16.131 Kilogramm. Mit dem Faktor 0,803 des metrischen Systems umgerechnet, kommt man auf 20.088 Liter.

Das metrische System war aber erst kurz zuvor in Kanada eingeführt worden und die brandneue Boeing 767-232 war das erste Flugzeug des Landes, bei dem die Einheiten in Kilogramm und nicht wie bei allen anderen Jets in Pfund und Gallonen in den Handbüchern angegeben wurde. Fatalerweise rechneten nun die Flugkapitäne die Treibstoffmenge noch nach dem alten System mit dem Faktor 1,77 um, woraus sich eine völlig falsche Kalkulation ergab. Statt der tatsächlich benötigten 20.088 Liter wurden also lediglich 4.916 Liter Kerosin in die Tanks der Boeing 767 gefüllt, woraus sich eine Gesamtkraftstoffmenge von 22.300 Pfund beziehungsweise 10.000 Kilogramm ergab -- weit weniger als die Hälfte der für den Flug nach Edmonton benötigten 22.300 Kilogramm. Trotz mehrfacher Überprüfung der Berechnungen fiel weder der Bodencrew noch den Piloten dieser Fehler auf. So gab Captain Pearson den Wert 22.300 in sein Flight Management System ein, das in Kilogramm rechnete und damit eine ausreichende Benzinmenge angab, obwohl sich in den Tanks nicht mal die Hälfte der benötigten Menge befand.

Die 767-233 der Air Canada lösten die zu großen Lockheed Tristar auf innerkanadischen Strecken und nach den USA ab.
© Ted Quakenbush_CC

Start mit fatalen Folgen

Mit 61 Passagieren an Bord rollte die Boeing 767 am 23. Juli 1983 mit den nicht mal halb gefüllten Tanks zur Startbahn und stieg kurz danach auf ihre Reiseflughöhe von 41.000 Fuß, die seinerzeit nur wenige Flugzeuge erreichten. Als sich das Flugzeug nach der Hälfte der Strecke über dem Red Lake in Ontario befand, wies ein akustisches und optisches Warnsignal auf Probleme mit dem Treibstoffdruck im linken Triebwerk hin. Der Druck fiel ab, doch das Flight Management System zeigte genügend Kerosin in den Tanks an. Pearson ging folglich von einer defekten Pumpe im linken Triebwerk aus und schaltete sie ab. Das ging ein paar Minuten gut, doch dann stellte auch die Pumpe für das rechte Triebwerk den Betrieb ein und ein paar Augenblicke später blieben beide Triebwerke stehen.

Tatsächlich hatte man unbemerkt also weniger als die Hälfte der berechneten Menge in den Tanks, und prompt meldete die linke Treibstoffpumpe nach der Hälfte der Strecke auch erste Probleme. Der Druck fiel ab, doch da der Tank oberhalb des Triebwerks liegt, schaltete man die Pumpe einfach ab. Das ging ein paar Minuten gut, doch dann stellte auch die rechte Pumpe den Betrieb ein und ein paar Augenblicke später blieben beide Triebwerke stehen. 75 Meilen vor Winnipeg war aus der Boeing 767-233 ein Segelflugzeug geworden. Da die Triebwerke eines Flugzeugs die Generatoren für die Stromversorgung antreiben, war durch den Ausfall beider Motoren auch die Energieversorgung der Bildschirme im Cockpit unterbrochen und die Piloten saßen ohne funktionierende Instrumente im Dunklen. Auch die Hydraulikversorgung brach zusammen, wodurch ein großer Jet wie die 767 nicht mehr steuerbar war.

Militärstützpunkt Gimli als Rettungsanker

Nur wenige Augenblicke blieben Captain Robert „Bob“ Pearson und F/O Maurice Quintal, sofort wirksame Entscheidungen zu treffen. Der nächste Flughafen für eine Notlandung wäre Winnipeg gewesen, doch schnell wurde klar, dass es für die 75 Meilen bei einem Verlust von 1.500 Metern Höhe auf 10 Meilen bis dorthin nicht mehr reichen würde. Nun kam Pearson eine wichtige Erfahrung zugute, denn er war auch erfahrender Segelflieger. Das Wetter und vor allem die Sicht waren aber gut, und F/O Maurice Quintal kannte als ehemaliger Militärpilot den ehemaligen und nur zwölf Meilen entfernten Stützpunkt Gimli, wo der Copilot Jahre zuvor als Militärpilot stationiert war.

Was er allerdings nicht wusste war, dass Gimli mittlerweile ein öffentlicher Flugplatz war und ausgerechnet an diesem Tag ein großes Familienfest des ansässigen Motorsport-Vereins stattfand. Die Piste war voll mit allen möglichen Vehikeln und in der Mitte standen Leitschienen aus Metall. Aber es half nichts: Die Landung auf der alten Air Base war die einzige verbliebene Option. Schnell kam sie in Sicht, aber ebenso schnell wurde den Piloten klar, dass die 767 für eine sichere Landung viel zu hoch war. Also entschieden sie sich für das, was ein Segelflieger in solchen Situationen immer tut, nämlich den Seitengleitflug, das sogenannte „Slippen“. Dabei wird ein Flugzeug quer gegen den Wind gedreht, verliert massiv an Höhe, bleibt aber kontrollierbar. Nun musste noch das Fahrwerk ausgefahren werden, was aufgrund der fast verlorenen Hydraulik nicht ganz einfach war, aber es gelang zumindest im Ansatz.

Es war sensationell und rettete dem Captain letztendlich den Job und den Passagieren das Leben: Weder vorher noch nachher gelang es jemals, einen antriebslosen Jet mehr oder weniger unbeschädigt zu Boden zu bringen.
Photo: FAA Washington, USA

Dramatische Landung

Beim Slippen kommt es darauf an, das Flugzeug buchstäblich in letzter Sekunde gerade auf die Bahn auszurichten, was unter den gegebenen Umständen eine enorme fliegerische Herausforderung war. Aber es gelang. Die 767 setzte auf der Landebahn auf und Pearson trat voll in die Bremsen, wodurch aufgrund des ausgefallenen ABS-Systems mehrere Reifen platzten. Das Bugfahrwerk knickte ein und unter Funkenflug schlitterte die 767 über die Piste. In Panik ergriffen die vielen Besucher samt ihrer Rennautos, Vans, Kinderwagen und Zelten erfolgreich die Flucht vor dem Jet. Nur wenige Meter vor dem Areal der Veranstaltung kam das Flugzeug schließlich zum Stehen. Dass die Maschine auf der Nase landete, verkürzte den Bremsweg glücklicherweise deutlich. Mit intaktem Bugrad wäre die Maschine über das Pistenende hinaus geschossen und das Landemanöver wäre noch dramatischer geendet.

Kurz vor der Notlandung der 767 war die Piste noch voll mit den kleinen Rennautos. Die Kinder konnten gerade noch rechtzeitig die Flucht ergreifen.
Photo: FAA, Washington, USA
Aufgrund des hoch aufragenden Hecks gab es wegen der steil abfallenden Notrutschen etliche leicht Verletzte, die überwiegend Schürfwunden und Prellungen erlitten.
Photo: FAA, Washington, USA

Konsequenzen trotz fliegerischer Meisterleitung

So endete der dramatische Flug des Großraumjets ohne ernsthafte Verletzungen bei den Passagieren und der Crew. Zwar wurde die hohe Professionalität der Piloten gelobt, gleichzeitig aber die Airline für die Mängel und insbesondere für die schlechte Schulung ihrer Piloten und des Bodenpersonals im Umgang mit dem metrischen System und bei der Berechnung von Gewichten und Treibstoffmengen kritisiert. Captain Pearson wurde für sechs Monate vom Dienst degradiert, flog danach aber wieder als Captain noch viele Jahre für seine Airline. Viele Piloten der Air Canada versuchten später, in einem Simulator der Airline in Vancouver den Flug des Gimli Gliders nachzustellen; Alle scheiterten und stürzten ab. Damit bleibt Pearsons Leistung bis heute unerreicht.

Die 767 konnte zwei Tage nach der spektakulären Notlandung provisorisch repariert unter großem Medieninteresse nach Winnipeg überstellt werden. Der Gimli Glider ging wieder in den normalen Liniendienst und wurde nach 25 Jahren Anfang 2008 ausgemustert und von Montreal zum Wüstenflughafen Mojave geflogen, wo er schließlich eingemottet wurde. An Bord waren Captain Bob Pearson und der inzwischen selbst zum Kapitän beförderte Maurice Quintal – diesmal als Passagiere von Air Canada 143. In Gimli gibt es heute ein kleines Museum, das dem Flug AC143 gewidmet ist. Genaue Unfallberichte der an dieser Stelle nur grob skizzierten Ursachen sind im Internet unter anderem unter „Air-Canada-Flug 143“ abrufbar.

Der „Gimli Glider“ blieb noch viele Jahre im Dienst. Hier 1998 in modernisierter Bemalung in Miami.
Photo: AeroIcarus_CC
2008 musterte Air Canada ihr berühmtestes Flugzeug aus und stellte es in der trockenen Mojave-Wüste in Nevada erst einmal ab.
Photo: Akradetzki_CC

Air Canada hat inzwischen fast alle ihrer einst 55 Boeing 767-200 und -300 ausgemustert; Eine lange Ära dieser hervorragenden Twinjets wird 2025 bei Air Canada nach weit über 40 Jahren zu Ende gehen. Nachfolge-Muster sind bisher 39 Boeing 787 der Serien -8 und -9. Bei Boeing spielt die 767 noch immer eine aktive Rolle. Über 1.400 Exemplare aller Serien wurden bisher produziert, doch neben weiteren 767-300F für FedEx sind auch noch etliche Aufträge für militärische Varianten offen.

Text: Fritz Gratenau
Titelbild: © AeroIcarus_CC

Zahlen, Daten, Fakten

Typ: Boeing 767-200
Betreiber: Air Canada
Modell / Reg.: 767-233 C-GAUN
Baujahr: 1982
Baunr. 22520/47
Klasse: Mittelstrecken – Großraumjet
Triebwerke: 2 x PW JT9D-700, 214 kN
Kapazität: 18 Business / 196 Economy
Reichweite: 7.200 Km
Geschwindigkeit: 850 km/h
Produktion: 128 (767-200)
Bauzeit: 1982 - 1987

China Airlines Boeing 767-200 – B-1836
China Airlines Boeing 767-200 – B-1836
Artikelnummer:
536455
Maßstab:
1:500
Material:
Metall
39,95 €